Alexei Makushinsky

schriftsteller, dichter, essayist

 

MOSKOWIEN IST NICHT RUSSLAND

Der folgende Text wurde auf Anfrage einer französischen Zeitung geschrieben, daher mag einiges davon dem russischen Leser zu bekannt vorkommen. Ich hoffe, der Leser wird mir verzeihen. Es gibt Momente im Leben und in der Geschichte, in denen es notwendig ist, entschieden, direkt und einfach zu sprechen. Sonst kann man nicht atmen.

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Alexei Makushinsky 

 

MOSKOWIEN IST NICHT RUSSLAND 

 

Ich hasste ihn auf den ersten Blick. Als dieser kleine Mann mit eisigen Augen im Fernsehen auftauchte, wurde mir klar, dass die Dinge schlecht standen. Die Leere in seinen Augen war erschreckend. Die Leere ist seine Haupteigenschaft. Er war niemand, er war ein kleiner Fisch, ein gewöhnlicher Agent der Geheimpolizei. Nach dem Zusammenbruch der UdSSR wollte er Taxi fahren. Besser wär’s gewesen. Er war Tschekist, wurde fast Taxifahrer, stieg ins Präsidentenamt ein. Zuerst schien er es nicht zu glauben. Er hatte Angst, zitterte und zuckte. Dann enthemmte er, bekam einen Vorgeschmack, entschied, dass er eine wichtige Person, dass er ein General war, dass er mehr als ein General war - ein Generalissimus.

Diese Geschichte erinnert mich an etwas ... An Gogols Chlestakow, natürlich: Ein kleiner Beamter, den die dummen Bewohner einer Provinzstadt für einen Bonzen halten, für einen Revisor. Die unsterbliche Komödie spielt sich immer wieder vor unseren Augen ab. Zuerst können wir lachen, dann wird die Komödie blutig. Dies ist die blutige Komödie der russischen Macht. Sie ist immer falsch, immer selbsternannt, diese Macht, trotz all ihrer scheinbaren Stärke, Unantastbarkeit, Rücksichtslosigkeit. Deshalb bricht sie so schnell zusammen, die innere Leere zerfrisst sie. Bis zum Zusammenbruch gibt es nichts Schrecklicheres und Unmenschlicheres als diese alles verzehrende Leere, dieses alles verschlingende Nichts. Reibe dir die Augen, es gibt überhaupt keinen Putin. Da ist ein kleiner Kobold, der sich zum Präsidenten erklärt hat. Ein armer Schuft, der sich selbst als Staatsmann sieht. Ein schwarzes Loch, in das Russland zusammen mit den Nachbarländern fällt.

Er wird oft mit einer Ratte verglichen (die in die Enge getriebenen wurde oder nicht). Die Ähnlichkeit mit dem fabelhaften Rattenfänger ist noch stärker. Die Ratte entpuppte sich als Rattenfänger; das ist unsere Tragödie. Der Rattenfänger führt die von ihm verführten und betrogenen Kinder, die sich (ohne triftigen Grund) für Erwachsene halten, auf direktem Weg in den Abgrund. Er spielt Flöte; sein Lied ist lächerlich einfach („wir sind gut, aber wir werden angegriffen...“). Leider hat dieses einfache Lied alle Chancen, zu Wagners «Götterdämmerung» zu werden (und sagen Sie mir nicht, dass Putins Privatarmee rein zufällig nach dem Lieblingskomponisten eines anderen Führers benannt ist; solche Zufälle gibt es nicht).

Es schien, als wäre das zwanzigste Jahrhundert vorbei, als würde nach dem 11. September das einundzwanzigste mit seinem neuen Schrecken beginnen. Aber nein, nichts endet. Immer wieder wiederholt sich die gleiche Schande, der gleiche Albtraum. Ewige Panzer fahren ewig durch Prag. Afghanistan 1979, Tschechoslowakei 1968, Ungarn 1956, Baltische Staaten 1940, Westukraine 1939. Wollen Sie mehr? Polen 1863, Ungarn 1849, Polen 1830... Das ist draußen. Und drinnen – Gesetzlosigkeit, Gewalt, Zwangsarbeit, Strangulation lebendiger Gedanken, Menschenverachtung, Polizeiwillkür, hoffnungslose Dummheit und schamlose Käuflichkeit von Beamten, die unerträgliche Vulgarität des offiziellen Patriotismus. Leider ähnelt die russische Geschichte der bekannten Filmkomödie „Und täglich grüßt das Murmeltier“. Man verfällt der Verzweiflung, auch wegen der Unausweichlichkeit, Unvermeidlichkeit dieser Wiederholungen. Alles wird so bleiben, es gibt keinen Ausweg.

Es gibt keinen Ausweg, solange Russland in der eisernen Umarmung des Monsterstaates bleibt, der unter immer neuen Masken wiedergeboren wird. Der große Philosoph und Historiker Georgij Fedotov schrieb bereits in den 1930er Jahren im Pariser Exil, dass das sogenannte «mongolisch-tatarische Joch» mit der Verlegung des Hauptquartiers des Khans nach Moskau endete. Seitdem ist es dort. Es nennt sich entweder Großfürstentum oder Zarentum oder Imperium oder die Sowjetunion oder die Russländische Föderation, aber sein Wesen ändert sich nicht. Und dieses Wesen ist sehr einfach, die Aufgabe elementar - die Expansion des Reiches und die Versklavung der eigenen Bevölkerung. Das nennen sie "das Sammeln der russischen Erde". Putin spricht auch gerne vom "Sammeln der russischen Erde". Tatsächlich ist dies das Sammeln der russischen und der nicht-russischen und jeder Art von Erde unter der Herrschaft Moskowiens, des Monsterstaates. Die Mars-Erde würden sie sich auch einverleiben, wenn sie nur könnten. Die alte polnische Losung, die von Alexander Herzen wiederholt wurde, bleibt in Kraft: "Für unsere und eure Freiheit!" Es geht um die Freiheit von Moskowien aller Länder, die es jemals erobert hat, sei es Polen, die Ukraine – oder Russland selbst.

Seltsamerweise hoffte ich auf diese fatale Wiederholbarkeit der russischen Geschichte, auf dieses „Und täglich grüßt das Murmeltier“, auf die ewige Wiederkehr des Gleichen. Russische Herrscher spielten selten va banque, sondern langsam, grausam und hartnäckig, indem sie alle Säfte aus ihren eigenen und benachbarten Völker aussaugten, bauten sie ihr Drachenimperium auf, ihre verdammte „Vertikale der Macht“, wie das gegenwärtige Khanlein mit leeren Augen es gerne nennt. Selbst Stalin, das müssen wir ihm zugestehen, war – nicht klüger: Tyrannen sind immer dumm und unbedeutend – aber gerissener; Stalin hat im Schatten des schändlichen Pakts mit Hitler, in jenem historischen Moment, als der Hauptschurke für die ganze Welt nicht er, sondern sein Bruder und Verbündeter war, heimlich die Nachbarländer einverleibt. Er hat auch versucht, Finnland einzunehmen, aber dann haben ihm die Finnen seine Schnauze poliert. Ich habe mich geirrt, wie auch die ganze Welt sich geirrt hat. Ich dachte, der Jetzige würde sich wie Stalin benehmen, aber er benahm sich wie Hitler, ging va banque und brachte die Menschheit an den Rand der Apokalypse. Diejenigen, die ihn längst Putler nannten, erwiesen sich leider als weitsichtiger.

Russland ist nicht Moskowien und Moskowien ist nicht Russland. Es ist unfair, sie gleichzusetzen. Es ist Moskowien, das jetzt Kinder tötet, es ist Moskowien, das Charkow bombardiert, es ist Moskowien, das auf Kiew schießt. Und Russland? Hier ist der Haken. Russland ist nicht Moskowien, aber es ist auch nicht das Gegenteil davon. Sie können einander nicht gleichgesetzt werden, aber es ist leider unmöglich, sie einfach einander entgegenzusetzen. Thomas Mann sagte während des Zweiten Weltkriegs, dass es leider kein "schlechtes" oder "gutes" Deutschland gibt; es gibt nur ein Deutschland mit seinem tragischen Schicksal und seiner Schuld. Es gibt nur ein Russland mit ganz unterschiedlichen Gesichtern, unterschiedlichen „Antlitzen“. Es gibt sehr schöne Gesichter Russlands; jetzt geht es leider nicht um sie. Moskowien ist sein schrecklichstes, unheimlichstes Gesicht, und ich bin nicht sicher, ob es sich jemals davon befreien kann. Moskowien – natürlich! – versucht immer, die Welt und sich selbst davon zu überzeugen, dass genau es Russland sei, dass es kein anderes Russland gebe, kein anderes Russland geben würde, geben könne. Es ist nicht wahr. Ein anderes Russland gab es, gibt es und wird es geben. Die ganze Hoffnung Russlands liegt gerade darin, dass es niemals kampflos aufgegeben hat, dass es Moskowien niemals erlaubt hat, es vollständig zu versklaven und spurlos zu verschlingen. Es ist das andere Russland, das jetzt herauskommt, um zu protestieren, es ist das andere Russland, das versucht, die Untertanen des Rattenfängers mit Worten der Wahrheit und des Zorns zu erreichen, es ist das andere Russland, das sein Gesicht mit den Händen bedeckt vor Scham davor, was getan wird in seinem Namen.

Es sollte sich entschiedener von Moskowien, von imperialen Gewohnheiten, von Großmachtarroganz trennen. In diesen Tagen der Scham und Trauer denke ich alsSchriftsteller natürlich an unsere Literatur. Sie bietet einiges, worauf man sich stützen, was man dem Staatswahn entgegensetzen kann. Heute wird oft Leo Tolstois große Antikriegsbroschüre „Besinnt euch!“ zitiert; es gibt auch andere Texte, die an dasGewissen, an die Vernunft appellieren. Aber leider gibt es in unserer Literatur auch viel -zu viel – „Moskowien“. Ich bin nicht länger bereit, das zu dulden, und ich glaube, dass wiralle - übrigens, wer sind wir eigentlich? - uns nicht mehr damit abfinden sollen. Ich binnicht mehr bereit, Puschkins Hymnen zu Ehren der Niederschlagung des polnischenAufstands zu verzeihen; Dostojewski all seinen antisemitischen imperialen Unsinn („Konstantinopel muss uns gehören“ und „die Juden sind an allem schuld“) und Alexander Blok seine Verherrlichung der skythischen Barbarei und des revolutionärenBanditentums zu vergeben. 

Ich schlage vor, zu all dem ein lauteres „Nein“ zu sagen, als es in Russland üblich ist, wo man alles hinnimmt, indem man angeblich alles verzeiht und die eigene Gleichgültigkeit, die eigene moralische Skrupellosigkeit unter der Maske der „Spiritualität“ verbirgt. Das bedeutet nicht, dass wir aufhören sollten, unsere besten Schriftsteller zu lesen, zu studieren und zu lieben. Ja, wir können nie aufhören, sie zu ieben, auch wenn wir es plötzlich wollten. Aber wir müssen aufhören, die Augen davorzu verschließen. Hören wir auf, so zu tun, als gäbe es nun mal die „heilige russischeLiteratur“, wie derselbe Thomas Mann es ausdrückte, und dass sie in unseremFreiheitskampf, in unserem Widerstand gegen den Monsterstaat immer auf unserer Seitestehe. Nein, nicht immer. Das imperiale Erbe sollte endlich aufgegeben werden – sowohlin der Politik als auch in der Kultur. Wir brauchen die Dekolonisierung der russischenKultur, genauso wie wir die Dekolonisierung der russischen Geschichte brauchen. Manempört sich und lacht in Russland, wenn Menschen im Westen, zum BeispielFußballspieler, vor den Bürgern der ehemaligen Kolonien niederknien, um sich für dieSünden Europas zu entschuldigen. Umsonst lacht ihr, umsonst empört ihr euch, Russen.Ihr selbst müsst Buße tun, eure Schuld ist nicht geringer.

Von Reue keine Spur. Die große Chance zur Buße wurde Ende der achtziger, Anfangder neunziger Jahre verpasst, im kurzen Augenblick russischer Freiheit. Jetzt müssenwir für die Verbrechen Lenins, Stalins und Putins sühnen. Der verdummte Schildbürgerkann seine Schuld nicht eingestehen und schiebt die Schuld auf andere ab. Dasarchaische Bewusstsein, das das Land seit Jahrhunderten nicht los wird, sucht immernach Feinden, teilt die Welt in „unsere“ und „eure“, in eigene und fremde auf. „Die Krimgehört uns“, es gibt Feinde, aber wir – „wir lassen unsere Leute nicht im Stich“ und im Allgemeinen sind wir „gut“.

Wir sind gar nicht so gut. Wir haben eine monströse Menge des Bösen über die Weltgebracht. Es stimmt, das russische Böse ist etwas Besonderes, besonders dumm. DasBöse ist immer dumm, aber das russische Böse ist besonders dumm. Das russischeBöse richtet sich nicht weniger gegen die Russen selbst als gegen andere Völker. Denn,ich sage es noch einmal, die Macht in Russland ist die verinnerlichte Fremdmacht, dieMacht der Goldenen Horde. Sie lässt die eigenen Leute nicht im Stich – sie tötet siemillionenfach. Auch Kriege führt sie so, indem sie den Feind mit Hekatomben vonLeichen überschwemmt. Sie weiß nicht, wie es anders geht, aber eine solcheNiederträchtigkeit, wie Putins mobile Krematorien, scheint sie noch nicht erreicht zu haben. Sogar aus Afghanistan kamen Zinksärge, die stark zur Diskreditierung des Sowjetregimes beitrugen. Der jetzige Khan berücksichtigte die Erfahrung seinerVorgänger. Es scheint, dass er die Leichen der Jungs verstecken will, die nach seinerkriminellen Laune getötet wurden, und das Schweigen ihrer Eltern mit dem Versprechenvon Gold-Bergen erkaufen will (er wird betrügen, daran habe ich keinen Zweifel).

Es gibt das ekelhafte Wort „Nullstellung“, mit dem er seinen Staatsstreich rechtfertigte.Gott schütze uns vor solchen Nullstellungen. Wir brauchen eine ganz andere ArtNullstellung. Wie in Deutschland nach dem Krieg die „Stunde Null“ schlug, nach der eineandere Zeitrechnung begann, eine andere, demokratische Geschichte (durch die eskeineswegs aufhörte, Deutschland zu sein, sondern aufhörte, Europa und die Welt zubedrohen), so muss auch in Russland eines Tages die „Stunde Null“ kommen, nach deres für immer aufhören wird, «Moskowien» zu sein, das sich selbst und andereverschlingt.Werden wir eine solche Stunde erleben?  Das bezweifle ich eben sehr.

 

Übersetzt aus dem Russischen von Marina Horst

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