Alexei Makushinsky

schriftsteller, dichter, essayist

 

Nach der Poesie. Über Wladislaw Chodassewitsch

Alexei Makushinsky

 

Nach der Poesie. Über Wladislaw Chodassewitsch

 

Veröffentlicht in: Wladislaw Chodassewitsch, Nekropolis. Portraits, Essays, Erinnerungen. Herausgegeben und übersetzt von Frank Göbler. Nachwort von Alexei Makushinsky. Verlag Helmut Lang. Münster 2016. 

In einem Brief von Wladislaw Chodassewitsch an seine Lebensgefährtin Nina Berberowa vom 19. Juli 1932 stehen folgende Zeilen: „Der letzte Ausbruch der Krankheit und der Verzweiflung wurde durch den Abschied von Puschkin hervorgerufen [gemeint ist das Projekt eines großen biographischen Buches über Puschkin]. Jetzt habe ich ihn, genau wie das Dichten, endgültig aufgegeben. Jetzt habe ich gar nichts mehr.“ Es blieben ihm noch sieben Jahre zu leben, und – trotz Verzweiflung, trotz Krankheit – noch große Teile seiner Memoirenprosa zu schreiben. Es ist gleichwohl eine Tatsache, daß Chodassewitsch zu den Dichtern gehört, die unvermittelt aufhören zu dichten, die verstummen, die sich entziehen. Er beginnt auch unvermittelt – Chodassewitsch zu sein. Zwar schreibt und veröffentlicht er seit seiner frühesten Jugend – das erste Gedicht in einer Zeitschrift mit achtzehn (1905) und der erste Gedichtband mit einundzwanzig Jahren (1908) –, aber das ganze Schaffen Chodassewitschs bis ungefähr 1916 – 1917 nimmt sich wie eine Art Prolog zu seinem eigentlichen Werk aus. So überrascht es nicht, daß er seine ersten Gedichtbücher in die Sammlung des Jahres 1927, die sich als die letzte erweisen sollte, gar nicht aufnahm. Alle Dichter haben natürlich ihr Jugendwerk, ihre Juvenilia. Hier geht es aber um mehr als das, hier geht es um einen plötzlichen Durchbruch eines Autors zu sich selbst, einen Durchbruch, den man auch als das Finden des großen Themas dieses Dichters beschreiben könnte. 

Von nun an entwickelt sich alles sehr schnell. 1917 in einem auf den ersten Blick eher unscheinbaren Gedicht werden ein „Singen“ und eine „Blüte“ der Seele bemerkt – für die es, fügt der Dichter hinzu, „in diesem Jahr vielleicht gar keine Rechtfertigung“ gibt – eine „Blüte“ und ein „Singen“, denen es ungefähr zehn Jahre zu dauern vergönnt war. Unmittelbar auf den ersten „eigentliche“ Gedichtbuch Chodassewitschs „Der Weg des Korns“ (1920) folgte der zweite, „Die schwere Lyra“ von 1921 – wohl der Höhepunkt seines gesamten Schaffens – und dann, im Exil, die dritte Sammlung „Europäische Nacht“ von 1927, in dem man bereits jenes Verdüstern, jene „Austrocknung“, um das böse Wort des Dichter-Rivalen Georgij Ivanow, zu verwenden („Ich will nicht so austrocknen, wie Chodassewitsch ausgetrocknet ist“, schrieb dieser in einem späten Brief), spüren kann, die dann auch zu dem Verstummen der letzten Lebensphase führen sollten.

Zehn Jahre also – und zwar sind das, wie jeder weiß, nicht die ruhigsten und nicht die sichersten Jahre der russischen wie überhaupt der europäischen Geschichte. Die Versuchung ist natürlich groß, die poetische „Blüte“ Chodassewitschs in Verbindung dazu zu sehen. Es gibt für diese „Blüte“ vielleicht keine „Rechtfertigung“, wie wir schon wissen, aber die „Seele“ singt nun, trotz oder möglicherweise doch wegen der um sie herum tobenden Katastrophen, als Antwort darauf? Das wird wohl weder bewiesen noch widerlegt werden können… Wenn diese Dichtung nun doch als eine Antwort auf die revolutionären Ereignisse verstanden werden kann, so handelt es sich um eine Antwort ganz besonderer Art, weder um eine revolutionäre, noch um eine konterrevolutionäre Dichtung, überhaupt nicht um eine solche, die auf die politische, soziale – ja überhaupt: auf diese diesseitige, hiesige, irdische – Realität unmittelbar Bezug nimmt. Eher wendet sie sich von dieser Realität ab, benutzt sie als eine Art Sprungbrett, um in das „ganz Andere“ zu gelangen (und von dort vielleicht einen flüchtigen, traurigen, mitunter zärtlichen Blick auf das bereits verlassene „Hiesige“ zu werfen).

So könnte man das „Hauptthema“ Chodassewitschs als „Aufschwung und Blick“ formulieren (auf Russisch ergibt das eine schöne Alliteration – vzljot und vzgljad – für die ich im Deutschen keine Entsprechung finde). Die „Seele“, die „Psyche“ schwingt sich plötzlich auf, plötzlich, meistens unerwartet bricht sie aus den irdischen Grenzen heraus, wirft sie die Bürde des alltäglichen trostlosen Daseins ab und erhebt sie sich endlich frei über die Welt, wie auch über sich selbst – um, „bereits von dort“, mit ganz anderen Augen, „vielleicht mit den Augen einer Schlange“ auf sich selbst und die Welt herabzublicken, auf die schon verlassene Welt und auf sich selbst wie auf eine „abgetragene Hülle“. Mitunter, wie in den Blankversen der „Episode“ (1918), wird eine richtige Phänomenologie des plötzlichen Hinaustretens aus den engen Grenzen des vergänglichen Ichs geboten, wieder verbunden mit dem ruhigen, ja friedvollen Blick – von woher? – „etwas von oben, von der linken Seite“, wie es im Text heißt – auf das eigene Selbst, das für diesen Augen-Blick quasi schon tot ist, und schließlich mit der qualvollen Rückkehr in das irdische Leben, in dem es dem Dichter eng ist, „wie einer Schlange, die man zwingen würde, wieder in die abgeworfene Haut hineinzuschlüpfen“. Eine dankbare Aufgabe wäre es, die Ausformungen und Verzweigungen dieses großen Themas bei Chodassewitsch zu verfolgen; an dieser Stelle möge der bloße Hinweis genügen. Selbstverständlich läßt sich sein Schaffen nicht darauf reduzieren; die zentrale Stellung dieses Motivkomplexes in seinem Schaffen ist aber, wie ich glaube, unverkennbar. 

Das bedeutet, daß Chodassewitsch im Grunde ein Mystiker ist, nicht in jener inflationären Bedeutung, versteht sich, die für die Jahrhundertwende typisch ist (wer sah sich nicht als „Mystiker“ in dieser Epoche…), sondern in jenem „hohen“ Sinne, der an die großen Namen der europäischen Mystiktradition erinnert, an Plotin, an Meister Eckhard. Andererseits wird ihm immer wieder eine gewisse „Nüchternheit“ bescheinigt; wohl kaum eine zeitgenössische Würdigung seines Schaffens kam ohne diese Floskel aus. Chodassewitsch der Illusionslose, der Enttäuschte, der Trockene, der Giftige gar… Er selbst hat an der Entstehung dieses Bildes kräftig mitgearbeitet („ich, der ich mit jeder Antwort den Poeten-Grünschnabeln Abscheu, Wut und Furcht einflösse…“). Nun schließen sich aber „Mystik“ und „Nüchternheit“ keineswegs aus, sondern ganz im Gegenteil, eine gewisse Nüchternheit scheint geradezu eine Bedingung der Mystik zu sein. Denn Mystik in ihrer wahren tiefen Bedeutung ist ja zunächst einmal – Klarheit, vielleicht die größte, die es geben kann. Klarer, blauer, wolkenloser, durchsichtiger Himmel… Das ist der Himmel seiner Dichtung. Die berüchtigte Nüchternheit Chodassewitschs ist notwendige Voraussetzung, um jenen Raum freizumachen, von wo aus der Aufschwung in diesen Himmel stattfinden kann. Mit den Illusionen und Nebelhaftigkeiten muß aufgeräumt werden, eine möglichst große rationelle Klarheit ist vonnöten, um zu der überrationellen Klarheit zu gelangen, das heißt, man braucht ein größtmögliches Maß an Intelligenz, um das zu erfahren, zu erspüren, letztlich sagbar zu machen, was jenseits davon liegt. Nicht auf dem Wege der futuristischen „transmentalen Sprache“ soll das geschehen – diese führt, nach Chodassewitsch, zurück in das „Vormentale“, in das sinnlose Stammeln, – sondern auf dem Wege der größtmöglichen Anstrengung, mitunter Überanstrengung des „Sinnes“, die eventuell auch zu jenen, vom Standpunkt des Ratio, „wilden Sinngebungen“ führen kann, von denen Andrej Belyj in Bezug auf Chodassewitsch so treffend sprach.

Es war nicht Belyj, sondern sein Mitstreiter in der Sache des Symbolismus, Wjatscheslaw Iwanow, der die wohl bekannteste Formel dieser auch für Chodassewitsch so eminent wichtigen literarischen, ja weltanschaulichen Bewegung prägte – a realibus ad realiora, „von dem Wirklichen zu dem noch Wirklicheren“. In einer eher nebulösen Perspektive erwartete man eine, um die Sprache der Zeit zu sprechen, „theurgische“ Wende der Kunst, einen Übergang vom Schaffen „bloßer Kunstwerke“ zum Schaffen „der Dinge selbst“. Eine „kollektive“ „(Theater-)Handlung“ sollte zu einer kathartischen Verwandlung der Welt führen, der Dichter erschien dabei beinahe als Gottes Mitstreiter, Mitschöpfer… Aus heutiger Sicht ist nicht ganz klar, wie man im Ernst an all das glauben konnte; ein verhängnisvoller Unernst haftet diesen „Träumereien“ an, ein tragikomischer Beigeschmack der Fälschung, des Spieles und Inszenierung. Ähnliches gilt für die Lebensführung der Symbolisten, ihre Art, zwischenmenschliche Beziehungen zu gestalten (siehe u.a. „Renatas Ende“ in diesem Band). Chodassewitsch dachte über Symbolismus sein Leben lang nach, hat ihn vielleicht so tiefgründig und scharf analysiert wie kein anderer vor und nach ihm (völlig Recht hatte deshalb der mit Chodassewitsch befreundete Exilkritiker Wladimir Weidlé, als er meinte, „man solle unseren Literaturhistorikern verbieten, über den Symbolismus zu schreiben“, ohne Chodassewitschs Schriften zu diesem Thema vorher studiert zu haben). Indessen erfüllten sich die „theurgischen“ Träumereien nicht, die ersehnte „kollektive Handlung“ entpuppte sich als die kollektive Bluttat der Revolution und des Bürgerkrieges, der angebetete „Dionysos“ hinterließ nach seinen mörderischen „Bacchanalien“ eine Verwüstung, von der sich das Land eigentlich bis heute, 100 Jahre danach, nicht erholen konnte. Dennoch versuchten einige der Symbolisten, zumindest zeitweise, auch darin eine, wenn auch nur eine unvollkommene Verwirklichung der „dionysischen“ Träume zu sehen (wovon „Die Zwölf“ von Alexander Blok, wie auch sein berüchtigter Aufruf an die Intelligenzija, „die Musik der Revolution“ zu hören, ein tragisches Zeugnis ablegen). Auch etwa Wjatscheslaw Iwanow beklagte Ossip Mandelstam gegenüber, daß es ihm nicht gelungen sei, mit den Siegern eine gemeinsame Sprache zu finden. „Ich war doch auch immer für die Gemeinschaft (sobornost‘)“. Mandelstam, so sollte später seine Frau in ihren berühmten Erinnerungen später erzählen, wunderte sich nur. „Was versteht er denn unter dieser Gemeinschaft? Eine Armee? Eine Menschenmenge? Ein Meeting?“ 

Solchen Versuchungen blieb Chodassewitsch genauso fremd, wie sein um fünf Jahre jüngerer Zeitgenosse Mandelstam (mit einer gewissen Wehmut denkt man daran, wie wenig sie sich verstanden haben, diese zwei vermutlich größten Dichter ihrer Epoche…). Auch er erfand keine Rechtfertigungen für die ausbrechenden Bacchanalien – ganz im Gegenteil, wie wir schon wissen: Eine Rechtfertigung gibt es möglicherweise nicht einmal für die „Seele“, die ausgerechnet in diesen blutigen Jahren zu „singen“ begann. Was macht nun aber Chodassewitsch inmitten der revolutionären Verwirklichungen theurgisch-dionysischer Träume? Er macht etwas Einfaches und Erstaunliches, er verwandelt das Programm in einen Kunstgriff. Das, was nach dem verworrenen Programm des Symbolismus außerhalb des Textes, quasi jenseits der Kunst geschehen – und somit die Kunst im traditionellen Sinne auch beenden – sollte, das geschieht bei Chodassewitsch innerhalb des Textes, als Teil des Textes, ohne die Kunst in Frage zu stellen, geschweige denn irgendwie, zugunsten einer nebulösen „Schaffung der Dinge selbst“, abzuschaffen. Immer und immer wieder fliegen seine Verse auf – von dem Wirklichen zu dem Wirklicheren, a realibus ad realiora – immer wieder wird der reine, blau, mystische Himmel eröffnet und also doch (aber eben in dem Text selbst) er-schaffen, damit die „Seele“ von dort, von oben, auf das hiesige Irdische blicken kann, damit sie auch zurückkehren kann, bereichert und verwandelt durch die Erfahrung des „Nicht-Hiesigen“, des „Dortigen“. 

Diese Verwandlung des Programms in den Kunstgriff läuft nun auf die gleichzeitige Fortsetzung und Überwindung des Symbolismus hinaus. Bei aller Überwindung bleibt bei Chodassewitsch der für den Symbolismus maßgebliche Gegensatz zwischen zwei Welten, zwischen dem „Hiesigen“ und dem „Dortigen“, dem „Wirklichen“ und dem „Wirklicheren“ erhalten. Nicht nur bleibt er erhalten, sondern er schafft geradezu die Voraussetzung für sein Hauptthema, seinen Aufschwung, Ausbruch… Und das ist wiederum die Grenze, die Chodassewitsch von der Bewegung trennt, der er altersmäßig und als nach dem Symbolismus kommender Dichter durchaus hätte angehören können – dem Akmeismus. Das waren nämlich nicht nur biographische bzw. geographische Umstände, die den Moskauer Chodassewitsch von den Petersburgern Nikolaj Gumiljow, Anna Achmatowa und eben Ossip Mandelstam trennten, sondern wohl auch viel tiefer liegende Differenzen in der Weltanschauung, der Lebenseinstellung. Man könnte ja den Akmeismus geradezu als einen Versuch verstehen, die romantische, bzw. symbolistische, letztlich natürlich auf Plato zurückgehende Spaltung der Realität in zwei Welten, in das trostlose Irdische und das leuchtend Jenseitige, zu überwinden, aufzuheben. Natürlich sollte man die programmatischen Äußerungen insbesondere jünger Autoren nicht allzu wörtlich nehmen, und doch ist es unverkennbar, daß etwa die von Ossip Mandelstam bereits in seinem frühen Manifest „Der Morgen des Akmeismus“ formulierte Aufforderung, die Welt – im Gegensatz zur symbolistischen Flucht aus dem „blauen Gefängnis“ – „nicht als eine Bürde oder einen unglücklichen Zufall, sondern als einen gottgegebenen Palast“ zu betrachten, – daß diese Aufforderung sowohl sein Schicksal als auch seine Verse bestimmte. Wir haben es hier mit einem ganz anderen – und sicher, viel glücklicheren – Bewußtseinstypus zu tun. Mandelstams Schicksal war zwar, milde gesagt, sehr unglücklich, wofür aber ganz andere, historische Kräfte verantwortlich sind. Glückserlebnisse sehen wir sowohl in seinen Gedichten, als auch, nach vielen biographischen Zeugnissen zu urteilen, in seinem Leben auch noch am Rande des Abgrunds.

Von einem „gottgegebenen Palast“ kann man bei Chodassewitsch nun wirklich nicht reden… Eher ist die Welt für ihn eine „schändliche Pfütze“, in der sich zwar die Herrlichkeit Gottes immer von neuem widerspiegelt, die aber darum nicht aufhört, eine Pfütze zu sein. Nur der „Traum“, die „Einbildung“, sprich – die Poesie, vermag die andere, die wahre, die göttliche Welt, die Welt, die in der „Sternenglorie und ursprünglicher Schönheit“ leuchtet, „wiederherzustellen“. Das ist keine „leichte Mühe“ (ich zitiere weiter das Gedicht „Die Sternen“ aus der „Europäischen Nacht“). Diese „Mühe“ ist auch deshalb so schwer („Die schwere Lyra“ eben…), weil, wie es in einem in die gleichnamige Sammlung aufgenommenen Gedicht heißt, die Welt Gottes auch schwer und Gott selbst unbarmherzig ist. „Und wozu eine solche Weite, wenn es auf der Welt den Tod gibt?“ Deshalb ist die Verzweiflung bei Chodassewitsch immer in der Nähe, hinter jeder Ecke, deshalb dachte er wohl auch sein Leben lang an Selbstmord.

Wenn die Sterne aufhören zu leuchten, die Glorie erlischt, die Seele nicht mehr auffliegt, ausbricht…, dann hören in der immer dunkler werdenden europäischen Nacht auch die Gedichte auf, ihrem Schöpfer kurze Versöhnungspausen zu bescheren. Nicht aber die Prosa. Seine Prosa beginnt gewissermaßen erst richtig dort, wo die Poesie endet. Zwar schreibt Chodassewitsch sowohl kritische als auch literaturgeschichtliche Artikel seit seiner frühesten Jugend, aber seine wichtigsten Aufsätze, seine großartigen Memoiren, sein Buch über Derschawin – das alles entsteht in der zweiten Hälfte der 20er und in den 30er Jahren. Wir lesen diese Prosa, diese Essays, Aufsätze, Erinnerungsstücke, wohl wissend, daß sie aus der Feder eines der größten Lyriker des Jahrhunderts stammen. Ich glaube indessen, daß Chodassewitschs Prosa auch ohne dieses Wissen das bleiben würde, was sie ist – einer der Gipfel der russischen Prosa überhaupt. „Nekropolis“, „Derschawin“, Kapitel aus dem Puschkin-Buch und auch jene, immer noch – welche Schande! – unvollständig gesammelten und wieder veröffentlichten Zeitungsartikeln, mit denen er seinen Lebensunterhalt verdiente – das alles, oder fast alles, gehört schlicht und einfach zu dem Besten, was in der russischen Prosa des vergangenen Jahrhunderts geschaffen wurde. In unserem inneren Bücherregal sollte es neben Bunins „Dunklen Alleen“ und Nabokovs „Gabe“ stehen… Wir sind immer noch daran gewöhnt, fürchte ich, daß Prosa Fiktion sein muß, Handlung und Helden. Es gibt jedoch eine andere Prosa, das, was die Literaturwissenschaftlerin und Essayistin Lydia Ginsburg „direktes Gespräch über das Leben“ nannte, das ohne die „ärgerliche Vermittlung“ durch erfundene Sujets und erdachte Gestalten auskommt. Chodassewitsch ist der große Meister einer solchen Prosa, le maître des maîtres. Insofern kann man Vladimir Nabokov doch nicht Recht geben, der in seinem ergreifenden, ja beinahe pathetischen Nekrolog auf Chodassewitsch („Der größte Dichter unserer Zeit, literarischer Nachfahre Puschkins auf der Tjuttschewschen Linie, bleibt er der Stolz der russischen Dichtung, solange die letzte Erinnerung an sie noch lebt“… usw.) seine kritischen Äußerung („trotz ihrer Intelligenz und  ihrem Formsinn“) gegenüber seinen Versen einigermaßen herabsetzt, ihnen den „Reiz und Pulsierung“ (bienie i obajanie) der Verse abspricht. Diese bienie (Pulsierung) – ein Wort, das im Russischen ursprünglich nichts Medizinisches an sich hat – kommt übrigens aus einem Gedicht von Chodassewitsch selbst, dessen „Ich“ durch die allgemeine „Verwesung“ des irdischen Lebens hindurch gerührt die „Pulsierung eines ganz anderen Seins“ spürt, wie eine schwangere Frau, die immer wieder ihre Hand auf den „schwer anschwellenden Bauch“ legt… Wie auch immer: Von der Prosa „Reiz und Pulsierung“ zu erwarten wie von der Poesie, ist wohl eine Übertreibung (obwohl nicht zu verkennen ist, daß Nabokov hier seine eigene Idealvorstellung, auch in Bezug auf Prosa, offenbart; Chodassewitsch Einfluß auf seinen jüngeren Zeitgenossen war gewaltig…); dazu fehlt ihr schlicht und einfach jene Knappheit und Konzentration auf das Wesentliche, die nur der „gebundenen Rede“ eigen sind. Und doch hat man, wenn man etwa Chodassewitschs „Kinderjahre“ oder „Renatas Ende“ oder auch seine Aufsätze über Nabokov selbst liest, den Eindruck, daß wir uns hier zumindest in der Nähe jener Idealvorstellung von der pulsierend reizvollen Prosa befinden, die trockene und feine Anmut, Klarheit der Diktion, Vollendung des Rhythmus mit durchdringender Deutlichkeit der Gedanken und Gültigkeit der Charakterisierungen von Menschen und Ereignissen vereinigt. 

Die Prosa von Chodassewitsch ist nicht „poetisch“ im herkömmlichen, banalen Sinne des Wortes, keine „Dichterprosa“ also – wofür es genug Beispiele gerade in den Prosaexperimenten der Dichter der Epoche gibt –, sondern es ist eine Art zu schreiben, die sich letztlich an Puschkin orientiert, somit durch Puschkin vermittelt an die große Tradition der vor allem französischen, rationalistisch-sparsamen und trocken-präzisen Prosa, die der bekannten Neigung russischer Autoren zu orientalisch-ornamentalen Ab- und Ausschweifungen so entschieden zuwiderläuft. Es gibt etwas erfrischend Unzeitgemäßes in Chodassewitschs Diktion. Genau wie seine Verse einen „Traditionalismus“ in der sogenannten „Form“ mit „wilden Sinngebungen“ und unter Umständen sehr gewagten Themen in dem sogenannten „Inhalt“ verbinden (Chodassewitsch selbst hätte wohl beide Begriffe ohne Anführungszeichen nicht durchgehen lassen; die herkömmliche Trennung in Form und Inhalt, betont er immer wieder, werde dem grundlegenden Einheit eines Kunstwerkes nicht gerecht; daher seine mitunter sehr scharfe Kritik sowohl an der ideengeschichtlichen, den Inhalt betonenden, als auch an der formalen, „formalistischen“ Betrachtungsweise in der Literaturkritik und Literaturwissenschaft), genauso schreibt er in seiner Memoirenprosa über die Zeitgenossen und ihre Bücher mit einem Abstand, der erst einmal stilistisch gewonnen wird. So überrascht es nicht, daß er sich auch in der Literaturgeschichte vor allem den Epochen und Autoren zuwendet, die ihm stilistisch am stärksten verwandt sind. Und das sind in erster Linie die Autoren des russischen „Goldenen Zeitalters“, des frühen 19. Jahrhunderts. Seine Einfühlung in die Epoche geht so weit, daß er einen Dichter der Vor-Puschkinzeit einmal gar erfindet, ihm einen Namen und eine Biographie gibt, einige Beispiele seiner Lyrik „für ihn“ dichtet, und das Ganze 1936 in einer Pariser literarischen Versammlung als angebliche Entdeckung einer vergessenen Größe der russischen Literaturgeschichte präsentiert, was ihm die meisten Zuhörer auch glauben… 

Das bleibt aber eher eine Ausnahme. Die wahre Stärke Chodassewitschs liegt im Bereich der nicht-fiktionalen Prosa, im Bereich der Memoiristik, der Kritik, der Literaturgeschichte. Viele seine Urteile haben ihre Aktualität bis heute nicht eingebüßt, seine Schilderungen von Menschen, Ereignissen, literarischen Strömungen bleiben unübertroffen. Vor allem aber: Seine Texte bereiten eine Lesefreude, die weit über ihre kritische oder historische Bedeutung hinausgeht.

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