Alexei Makushinsky

schriftsteller, dichter, essayist

 

Alena Heinritz über "Dampfschiff nach Argentinien"

Makushinsky. Alexei
Dampfschiff nach Argentinien
Roman. Aus dem Russischen von Annelore Nitschke

Nach dreißig Jahre treffen sich der Architekt Alexandre Vosco und sein Freund aus der Kindheit, der Ingenieur Wladimir Grawe, zufällig auf demselben Schiff Richtung Argentinien wieder. Dieses zufällige Zusammentreffen bildet den Ausgangspunkt einer langen, diskontinuierlichen Recherche des Ich-Erzählers zu den Biografien des Architekten Alexandre Vosco und dessen Freund, die ihn tief in die Geschichte des 20. Jahrhunderts führt.

Ende der achtziger Jahre lernt der Ich-Erzähler zufällig Alexandre Vosco, eigentlich Alexander Nikolajewitsch Woskoboinikow, kennen. Vosco lebt mit seiner zweiten Frau Maria in Paris. Er ist ein weltweit anerkannter Architekt, der in Lettland aufwuchs, im Russischen Bürgerkrieg kämpfte, emigrierte und bei einem mehrjährigen Aufenthalt in Argentinien zu Weltruhm gelangte. Jahre nach dieser Begegnung in Paris bringen den Erzähler zufällige Umstände dazu, sich weiter mit Vosco zu beschäftigen. Er trifft Viviana wieder, die Tochter Voscos, die ihn damals mit Vosco bekannt gemacht hatte. Viviana ist eine Pariser Modedesignerin, die sich ihren Eltern gegenüber auch nach deren Tod eigensinnig und distanziert gibt. Ihr Halbbruder Pierre hat reich geheiratet und unterscheidet sich mit seinem betont konservativen Auftreten sehr von Viviana. Dennoch ist ihm der berühmte Vater ebenso fremd wie ihr. Die Gespräche des Erzählers mit Viviana und Pierre, wie auch seine Recherche in Bibliotheken, Archiven und Buchhandlungen, kreisen den eigentlichen Gegenstand seines Interesses immer weiter ein. Dabei ist oft gar nicht klar, woher die treibende Kraft eigentlich kommt, die ihn in der Recherche weiterführt. Erst am Schluss des Romans berichtet der Erzähler von seiner Entscheidung, die Geschichte erzählen zu wollen.

Die Suchbewegung des Erzählers, die diesen Roman ausmacht, zeigt sich auch im Stil. Lange, verästelte Sätze enden oft statt mit einem klaren Punkt mit drei Punkten. Die Gedanken des Erzählers scheinen zunächst ziellos herumzuirren, werden abgelenkt und führen dann zu Ergebnissen, die er ohne Anspruch auf Absolutheit äußert. Auch die Erzählweise steht zunächst nicht fest und muss erst erprobt werden. So fragt sich der Erzähler, wie Grawe auf dem Schiff wohl Vosco seine Geschichte erzählt haben mochte. Er probiert es aus und kommt schließlich zu einer Erzählung in zweiter Person.

Hinweise im Buch, etwa die Erwähnung der früheren Bücher Makushinskys, lassen auf eine große Ähnlichkeit zwischen dem Ich-Erzähler und dem Autor schließen. Das mag unwillkürlich dazu verleiten, auch die Figur des Architekten Alexandre Voscos als historische Figur zu betrachten, die der Autor gekannt hat und deren Geschichte er nun aufschreibt. Umso überraschender ist es dann zu erfahren, dass es einen Alexandre Vosco nur in Makushinskys Roman gibt. Das Schiff, auf dem sich Vosco und Grawe 1950 auf der Überfahrt nach Argentinien trafen, kann wohl kaum ein Dampfschiff gewesen sein. Das Dampfschiff steht vielmehr für die Unschärfe der persönlichen Erinnerung und ihrer Weitergabe. Die Vergangenheit ist in der Erinnerung ebenso wenig absolut wie in der Literatur. Um diese andere Art der historischen Vergangenheit geht es in dem Roman.

Für Vosco scheint die Welt mit vielen unsichtbaren Fäden durchzogen zu sein, „goldene Fäden des Sinns, die in die grobe Leinwand des Seins gewirkt sind“. Manchmal treten die Punkte, an denen sie sich berühren, an die Oberfläche. Sie erscheinen dann wie Zufälle, die Vosco in Listen zusammenträgt. Für den Erzähler steht Voscos Architektur in direktem Zusammenhang mit diesen Zufällen. Möglich ist, dass Vosco eine Gabe dafür hatte, die unsichtbaren Knotenpunkte der Fäden zu spüren und in seiner Architektur an die Oberfläche treten zu lassen. Dass dem Leser dieses kurze Aufscheinen in Erinnerung bleibt und er daraus auch den weiteren Verlauf der „goldenen Fäden“ erahnen kann, ist das große Verdienst Makushinskys.

Alexei Makushinsky, geboren 1960 in Moskau, lebt seit 1992 in Deutschland und schreibt auf Russisch Gedichte, Essays und Romane. Im russischen Original erschien „Dampfschiff nach Argentinien“ im Jahr 2014. Der Roman fand große Anerkennung und ist nun endlich auch in deutscher Übersetzung erschienen.

Alena Heinritz, Graz


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